Der-Schatten des Erfolges - Cover

Das Leben fängt bekanntlich mit der eigenen Geburt an. In meinem Fall ereignete sich dies 1956 in der Wohnung meiner Großeltern, Teil der Flöz-Hugo-Siedlung von Wanne-Eickel.

Das Leben fängt bekanntlich mit der eigenen Geburt an. In meinem Fall ereignete sich dies 1956 in der Wohnung meiner Großeltern, Teil der Flöz-Hugo-Siedlung von Wanne-Eickel. Das ist kein Witz! Die Großeltern behaupteten immer, aus einem mir bis heute unverständlichen Dünkel, dass die Siedlung erst hinter dem Achtfamilienhaus begann. Das glaubte ich aber angesichts des gemeinsamen Spielplatzes schon damals nicht.

Bis zu meinem neunten Lebensjahr verlief meine Kindheit für meinen Geschmack fast normal. Aus heutiger Sicht gab es viele Kindheitsdramen, aber das ist ein anderes Thema. Ich wurde mit fünf Jahren eingeschult, war wohl etwas vorlaut und zeichnete in der zweiten Klasse unseren Bahnhof dreidimensional, was zu leichten Irritationen in der Lehrerschaft führte. Ein Lehrer ‘löste das Problem‘, indem er mir ein schweres Schlüsselbund über die Rübe zog. Von da an war ich deutlich ruhiger und demütiger.

So fügte ich mich auch in diesem neunten Lebensjahr der Idee meines Vaters, mich in einem christlichen Posaunenchor zum Trompeter ausbilden zu lassen. Nach einiger Zeit wurden auch dort gewisse Talente offensichtlich, so dass ich zum Unterricht bei einem Trompeter der Bochumer Symphoniker geschickt wurde. Lernen und Üben war so gar nicht mein Ding, aber es ging doch langsam mit meinen bläserischen Fähigkeiten voran. Im Alter von zwölf Jahren kam ich in die Big Band der Musikschule und entdeckte, dass Musik auch etwas Spaß machen konnte. Mein erster Auftritt war da jedoch schon ein Jahr Geschichte.

In Ermangelung eines 4. Trompeters, schickte man mich mit elf Jahren zu einem Großereignis nach Stuttgart. Ein Jugendorchester gab ein szenisches Stück mit Tieren auf der Bühne. Ich habe vergessen, was es war. Erinnern kann ich mich aber an meine jugendliche Gefühlswelt. Sehr alleingelassen, mit vier Jahre älteren Jungmusikern, saß ich in einen Anzug gegossen auf der Bühne einer imposanten Halle auf dem Killesberg. Bundespräsident Lübke war Ehrengast und ich fühlte mich in jeder Hinsicht überfordert. Gleichzeitig war ich stolz. Nachdem man mich eine Woche später wieder zu Hause abgeliefert hatte, und ich wieder auf dem Hof Fußball spielen konnte, fühlte ich mich jedoch deutlich besser.

Das erste Konzert mit der Big Band im Wanne-Eickeler Saalbau hatte da schon einen anderen Charakter. Erstens war es ein Heimspiel und zweitens war ich nun bereits dreizehn Jahre alt. Das bedeutete, dass Mädchen eine Rolle spielten. In meinem roten Glitzerhemd spürte ich, dass so ein Musikerleben auch seine Vorzüge hatte. Nun war ich ein angehender local hero, was auch dem Posaunenchor nicht entging. So kam man auf die blöde Idee, dass es Zeit für ein kleines Solokonzert in der Kirche sei. Dabei erlebte ich erstmalig schmerzhaft den Unterschied zwischen Ensemblearbeit und Solospiel. Kurzum, ich wäre fast ohnmächtig vor Aufregung geworden. Es war die Hölle – jedenfalls für mich.

Angenehmer war meine erste Auslandstournee mit der Big Band durch Finnland. Fünfzehn Jahre alt und halbstark, das ging auf. Ich hatte mich gerade gemütlich in der Lokalszene etabliert, als der Trompeter einer bekannten regionalen Rockband eine Orchesterstelle bekam und dadurch seine Stelle vakant wurde. Man empfahl den kleinen, talentierten Trompeter aus Wanne-Eickel doch mal auszuprobieren. Auch wenn ich grundsätzlich nie ehrgeizig war, so entwickelte ich mich zum Kämpfer, sobald es eine Herausforderung gab.

Ich bestand das Probespiel und verdiente erstmalig Geld mit meiner Trompete – viel Geld für einen Schüler. Die Band war regional sehr erfolgreich und füllte mühelos Spielstätten mit tausend Zuschauern. In den Pausen wurde ich versteckt, weil ich nach dem Jugendgesetz gar nicht hätte arbeiten dürfen. Von da an war ich versaut. Nun wollte ich überall dabei sein. Die Schule war eine unangenehme Nebensache. Wir hatten mehr mit unseren Kunstkreisen zu tun, die wir im Gymnasium gründeten. Wir brachten Kunstzeitungen heraus und terrorisierten die Umwelt mit jugendlichem Intellekt und unverschämten Konzerten.

Das war mein Schritt in die Kunstszene. Kunst und Kommerz hatten sich bei mir schon sehr früh ein Stelldichein gegeben. Mit siebzehn Jahren machte ich mein Abitur und fühlte mich unendlich frei.

Kommentar

Aus der Hirnforschung wissen wir mittlerweile sehr viel über Konditionierung. Verhaltensmuster werden abgeschaut, unbewusst einstudiert und zur Grundlage des eigenen Handelns gemacht. Diese Verhaltensmuster können wir bewusst ändern, doch es braucht dafür einen Impuls von außen, da wir die Konditionierung nur sehr schwer selbst erkennen können. Im Kindesalter erfolgt die Konditionierung vornehmlich durch die Eltern und Bildungseinrichtungen, also durch so genannte Respektspersonen oder Lehrer. Vereinfachend kann man von einem Lehrer-Schüler Verhältnis sprechen. Liebe und andere Emotionen lasse ich hier einmal außen vor. Natürlich sind die Lehrer auch unterschiedlich konditioniert.

Die Auswirkungen auf den Schüler sind oft sehr einfach strukturiert. Begeisterung erzeugt Begeisterung, Zweifel erzeugt Zweifel. Mein Umfeld war alles Mögliche, nur kein Künstlerumfeld. Kein Mensch in meiner Familienumgebung konnte sich unter einem Künstlerberuf etwas vorstellen. Also hatte ich genau zwei Bezugspersonen, die das durchaus konnten. Zum Einen war da mein Bochumer Trompetenlehrer und zum Anderen mein Musiklehrer am Gymnasium. Die Signale von den beiden Lehrern konnten unterschiedlicher kaum sein. Der erste beklagte stets das harte Leben eines Berufsmusikers, während der andere es in blumigsten Bildern ausmalte. Mein späterer Werdegang spiegelte diese Dualität in verblüffender Weise wieder.

Es macht keinen Sinn, sich im Nachhinein über Fehlkonditionierung zu beklagen, und man muss immer die Kirche im Dorf lassen. Was mir in den jungen Jahren jedoch am meisten fehlte, war die eindeutige Haltung eines Mentors. Ein Mentor hat ein gesteigertes Interesse an seinem Schüler und bezieht den mentalen Zustand des Schülers in seine Ratschläge mit ein, oder versucht Fehlkonditionierungen zu ändern. Mein erster wirklicher Mentor war Professor Lodenkemper an der Musikhochschule. Seine konstruktiven Ratschläge kamen in der Rückschau jedoch fünf Jahre zu spät.

Talente zeigen sich in unterschiedlichster Ausprägung und es ist wahrlich nicht einfach, sie hinreichend zu beurteilen. Erfolg ist trotzdem in gewissen Grenzen programmierbar. Ich greife gern auf die Erkenntnisse der Quantenphysik zurück, um ein Bild möglicher Prozesse zu zeichnen. Schrödingers berühmte Katze kann sich vor dem Eintritt eines Beobachters in zwei gegensätzlichen Zuständen befinden. Tot und lebendig. Wenn man tot und lebendig in der Analogie durch ‘nicht erfolgreich‘ und ‘erfolgreich‘ ersetzt, bedeutet das, dass zumindest die Möglichkeit des Erfolges prädisponiert sein muss. Dieses Ziel zu erreichen, ist die Aufgabe des Mentors.

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