Nachdenker und Häuserplaner
Es war eine geheime Drohung an uns Patienten. Es sollte sagen: „Was auch immer ihr denkt, ich könnte auf der Stelle anfangen zu lesen und den Unterschied zwischen Euch und mir noch größer machen!“ Das hat mir mächtig Angst eingejagt.
Lieber Thomas,
mir geht es gerade gar nicht gut. Abgesehen davon, dass es Patienten in der Anstalt oft nicht so ganz gut geht, weil sie gerade eine Krise haben, macht uns manchmal auch das Anstaltsfernsehen zu schaffen. Das Problem für die Organisation ist eigentlich ein bekanntes. Jeder Patient hat eine eigene Vergangenheit und die ist trotz aller Psychotricks nicht immer zu kontrollieren.
Dann kommt es zu unkontrollierten Ausbrüchen. Schrecklich ist das und ich schäme mich auch immer, wenn es mit mir durchgeht. Ich weiß, dass dieser Brief mir viele Strafpunkte einbringen wird, vielleicht wird es sogar Auswirkungen auf mein Anstaltskonto haben. Aber nicht immer kann ich so ruhig bleiben, wie es sich gehört. Aber das ist Teil meines Krankheitsbildes. Deshalb bin ich ja in der Anstalt. Die Organisation wird schon wissen, wie sie darauf zu reagieren hat.
Das Ganze passierte so. Ich schaute nur etwas schlaues Anstaltsfernsehen. Ich gehöre ja zu den Patienten, die immer viel nachdenken. Für die gibt es speziell einen Anstaltssender, der für Nachdenker gemacht ist, damit wir ruhig bleiben. Heute habe ich eine Sendung gesehen, die wohl zur Beruhigung gedacht war, aber mich ganz unruhig gemacht hat. Ein Nachdenker und Bücherschreiber mit holländischem Namen beantwortete Fragen. Aber der sprach nicht so wie die holländische Zeichentrickente, also hollanddeutsch, sondern deutschdeutsch.
Mit solchen Sendungen will die Organisation zeigen, dass sie auch ein Herz für nachdenkende Patienten hat. Heute ist das aber mächtig daneben gegangen. Ich habe den deutschdeutsch sprechenden Holländer schon öfter gesehen und fast lieb gewonnen. Wenn er wie die Ente sprechen würde, wäre er natürlich noch sympathischer. Aber heute wurde ich ganz unruhig. Wir Patienten verstehen ja nicht alles, aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass irgendetwas schief läuft. Dann wurde mir klar, dass er zum Personal gehört!
Es war nicht das, was er sagte, obwohl mir auch das sehr seltsam vorkam. Es war seine Brille! Eine Lesebrille. Lesebrillen sind ja zum Lesen da, und sie machen deshalb keinen Sinn, wenn man gar nicht lesen will oder kann. Bei einem Fernsehinterview macht es aber gar keinen Sinn eine Lesebrille zu tragen. Der Nachdenker trug aber, wie eigentlich immer, eine Lesebrille. Da war mir plötzlich klar, was das bedeutete.
Es war eine geheime Drohung an uns Patienten. Es sollte sagen: „Was auch immer ihr denkt, ich könnte auf der Stelle anfangen zu lesen und den Unterschied zwischen Euch und mir noch größer machen!“ Das hat mir mächtig Angst eingejagt. Du kennst ja vielleicht den Satz der Organisation ‘Wissen ist Macht‘. Der Nachdenker hat mit der Brille ganz deutlich gedroht, dass er seine Macht jederzeit vergrößern kann, während wir im Hamsterrad arbeiten müssen.
Ich war wie gelähmt, der gehört wahrscheinlich zum Personal der Organisation. Ich hätte es aber eigentlich wissen müssen.
Dann kam eine Sendung direkt danach. Normalerweise sollten Patienten nicht zu viel von diesen schlauen Sendungen sehen. Mein Therapeut hat mir auch schon davon abgeraten. Aber ich war wie gebannt. Ein schwerer Rückfall. Hoffentlich schicken die mich nicht in die Intensivabteilung.
In der nachfolgenden Sendung wurde es ganz unheimlich. Ich kann dir nicht sagen, wofür die Sendung gut sein sollte, aber es waren nur Professoren auf der Bühne. Oft viel das Wort ‘Architektur‘, aber das spielt jetzt keine Rolle. Professoren auf der Bühne sind ein deutliches Signal für Patienten, dass die Organisation jetzt das Sagen hat. Es heißt: „Jetzt Obacht Patientenpack, hier geht es lang, aber hallo!“ Auch im Publikum nur Personal. Woher ich das weiß? Fast alle hatten Lesebrillen auf, obwohl sie ja nur zuhören mussten!
Dann kamen die ersten zwei Professoren zu Wort. Ich kann dir sagen, meine Aura schmolz von knapp einem Meter auf wenige Zentimeter zusammen. Ich wäre fast kollabiert. Da ging es aber zur Sache. Personal aus 20 Jahrhunderten wurde zitiert. Architekten sind doch Häuserbauer, oder? Bisher dachte ich, dass die prima Gebäude planen, die uns erfreuen und machen, dass wir tolle Gefühle haben. Weit gefehlt! Architekten sind hauptsächlich Nachdenker, wusstest du das eigentlich?
Mir wurde ganz übel und ich war kurz davor, mich zu übergeben. Dann habe ich noch schnell den Brief geschrieben. Jetzt muss ich mich hinlegen und wieder beruhigen.
Alles wird gut.
Nächste Kapitel
Die Sache mit der Zeit
Da gibt es doch den berühmten Universumsnachdenker mit den strubbeligen Haaren und den lustigen Augen. Ich hab es ja nicht so mit Namen, du kennst das ja bei mir, ein Symptom meiner Krankheit. Deshalb bin ich ja auch in der Anstalt gelandet. Jedenfalls hat der herausgefunden, dass es gar keine Zeit gibt, oder so ähnlich. Der Wahnsinn, oder?
Ein böser Traum
Heute Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Normalerweise liebe ich die Träume, weil sie ein wenig Freiheit bedeuten. Stell dir vor, ich konnte schon oft fliegen im Traum. So ganz ohne Flugzeug, einfach so. Abheben, Purzelbäume schlagen und ewig in der Luft bleiben. Da staunen die Traumpassanten aber nicht schlecht, sag ich dir. Es war immer fantastisch. Flugträume hatte ich aber schon lange nicht mehr.
Internet im Anstaltsnetz
Wir bekommen allerdings nur Computer in niedrigen Preisklassen. Dafür müssen wir ungefähr zwei Wochen im Hamsterrad arbeiten. Mittlere Dienstgrade vom Personal brauchen einen Tag, leitende Personaler ungefähr eine Stunde. Manager von Hamsterradbetrieben vielleicht 5 Minuten. Manchmal auch weniger.