Freejazz
Mein Freundeskreis bestand vornehmlich aus kunstbegeisterten jungen Leuten, die viel diskutierten. Zudem las man die angesagten Autoren und Philosophen, hörte avantgardistische Musik und sah sich gemeinsam Kunstbände an. Diese Clique blieb bis ins Studium hinein zusammen.
Die beiden Oberstufenjahre waren eine einzige Orgie. Wie das Leben zu laufen hatte, wussten wir seit Woodstock. Einige Schulfreunde waren schon so alt, dass sie Wohnungen mieten durften, was sich als durchaus verhängnisvoll erwies. Ich möchte nicht zu ausführlich werden, darf jedoch verraten, dass ich mich recht schnell mit Alkohol und seiner enthemmenden Wirkung anfreundete. Ich möchte an dieser Stelle jedoch ausdrücklich erwähnen, dass das später negative Folgen nach sich zog. Dass ich kein Trinker wurde, verdanke ich nur der Tatsache, dass ich Alkohol nicht vertragen kann.
Jedenfalls gab es hunderte von Treffen bei denen es hoch her ging. Mein Freundeskreis bestand vornehmlich aus kunstbegeisterten jungen Leuten, die viel diskutierten. Zudem las man die angesagten Autoren und Philosophen, hörte avantgardistische Musik und sah sich gemeinsam Kunstbände an. Diese Clique blieb bis ins Studium hinein zusammen. An der Ruhruniversität in Bochum studierte man dann Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophie und anderes. Wir besuchten auch auf Einladung der Freunde Vorlesungen in den anderen Disziplinen. Eigentlich eine sehr fruchtbare Zeit – wenn es nicht auch eine ‚Bierklause‘ mit günstigen Preisen gegeben hätte.
Ich war auch Mitglied im Filmclub der Uni. Dort lernte ich Leute wie Herbert Achternbusch kennen und schätzen. Bestellungen beim Kultverlag Zweitausendeins gehörten zum guten Ton. Erst kürzlich habe ich das Gesamtwerk von Karl Kraus endgültig entsorgt, weil mir klar wurde, dass ich das nie mehr lesen würde.
Bei einem der frühen Treffen der Oberstufengang spielte mir unser Freund Larry (heute Professor für Kunstgeschichte) eine LP vor, die mich zunächst sehr befremdete. Fünf Musiker spielten ein Zeug, das ich nicht so recht identifizieren konnte. Da ich damals natürlich gar nicht mehr übte, faszinierte mich jedoch die Tatsache, dass man offensichtlich Musik verkaufen konnte, wo nicht jeder Ton unbedingt treffen musste – Freejazz.
Zudem war das neu und kraftvoll. Der Trompeter war Manfred Schoof und ich war etwa sechzehn Jahre alt. Das wollte ich mal probieren, denn jeder war in der Kunstclique selbst künstlerisch tätig, was mir noch abging. Womit ich Geld verdiente, gehörte dort nicht zur Kategorie Kunst. Außerdem versandeten meine Einnahmequellen aus unterschiedlichsten Gründen gerade. Ich kaufte mir flugs noch ein paar andere Freejazz-Platten und war fortan der designierte Freejazz-Trompeter der Stadt. Zeitgleich bastelte in der Klasse unter mir gerade der Gitarrist Georg Gräwe an einer neuen ‘Karriere’ als Pianist. Er war auf der Höhe des Geschehens und liebäugelte mit einer Band, die neue Klänge erfinden sollte.
Wie es zur Gründung des Georg Gräwe Quintett kam, weiß ich nicht mehr genau. Es passierte einfach. Die Chronologie der Ereignisse ist mir ebenfalls entglitten. Jedenfalls landete die Band bei einem Sommerkurs für Jazz und Pop an der Akademie in Remscheid. Dort unterrichtete – Manfred Schoof.
Kommentar
Dieses Kapitel zeigt, wie sich die Einflüsse und Entwicklungsmöglichkeiten durch viele Zufälle erweitern. Vom Emotionalen, Künstlerischen her gesehen, war diese Zeit sehr fruchtbar. Die verschiedenen Lebenswege der Hauptprotagonisten unserer Kunstclique zeigen, wie sich Konditionierungen abseits von künstlerischem Talent in der Entwicklung bemerkbar machen. Ich habe künstlerische Herausforderungen gesucht und angenommen. Andere haben sich aus der Kunstszene zurückgezogen. Es ist hier völlig irrelevant, was für den Einzelnen letztlich besser war, weil das eine sehr persönliche Definitionsfrage von Lebenssinn ist. Selbst in der Rückschau ist diese Frage sehr komplex und hat keine eindeutigen Antworten.
Viele Eltern werden bestätigen können, dass die Jahre der Adoleszenz eine Achterbahn der Gefühle für Eltern und Kinder sind. Während die Pubertät eher überschaubare Gefühlswelten offenbart, kommen in dieser Zeit viele neue Eindrücke für die Kinder hinzu. Die Eltern verlieren zunehmend an Einfluss. Bis dahin sollten Eltern also die Erziehungsversuche weitgehend abgeschlossen haben. Jetzt ist es definitiv zu spät. Was sie aber noch eindrücklich tun können, ist bei der Suche nach geeigneten Mentoren behilflich zu sein. Ihre Erfahrung ist bei der Selektion unverzichtbar, wenn man sich nicht vollständig auf den Genossen Zufall verlassen will.
Ich habe da eher Glück gehabt und zumindest die bessere Seite der Entwicklungsmöglichkeiten erwischt. Im Idealfall geben sich jedoch die Mentoren die Klinke in die Hand und überlassen den Schüler nicht fünf Jahre seinem Schicksal. Der Weg aus dem Zustand der Orientierungslosigkeit heraus ist zwar immer da, aber mühsam zu begehen. Es kostet den Schüler und folgende Mentoren viel Kraft. Während Mentoren aber an der Aufgabe wachsen und den Aufwand in positive Energien für ihre Arbeit umwandeln können, ist es für den Schüler ein Kraftverlust, den er in den Folgejahren nur schwer kompensieren kann. Auch wenn viele Esoteriker das Gegenteil behaupten, so empfinde ich das Reservoire an Lebensenergie endlich. Über die Möglichkeit der Regeneration lasse ich jedoch gern mit mir reden.
Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Meinung im Gegensatz zu Methoden der ‘Umprogrammierung‘ stehe, wie beispielsweise in PSYCH-K oder NLP. Sie propagieren die Möglichkeit einer Änderung der Verhaltensmuster in kurzer Zeit. Meine Erfahrungen zeigen aber das Gegenteil. Natürlich können gute Mentoren oder Trainer den Prozess beschleunigen, dennoch dauert es seine Zeit, bis die neuen Muster im Unterbewusstsein angekommen sind. Insbesondere Künstler sind sehr sensible Wesen, die bisweilen heftig auf ihre Umwelt reagieren, was immer wieder zu mentalen Irritationen führt. Vielen Menschen sind Lebenszyklen bewusst, die zwar auch vom Lebensalter beeinflusst werden, bei denen aber im Besonderen ein starker mentaler Wandel am Anfang steht. Wenn man diese Zyklen als Bewusstseinsprozesse sieht, und ich tue das, so vergehen dabei viele Jahre.
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Kulturschock
Insgesamt gesehen, war der Kurs eine Achterbahn der Gefühle. Einerseits trafen wir auf phantastische Musiker, die uns eine nicht immer schmeichelhafte Standortbestimmung ermöglichten. Andererseits bekamen wir die Bestätigung, dass das gar nicht so schlecht war, was wir da zauberten und dass unsere theoretischen Kenntnisse gar nicht so schlecht waren.
Das Jahr danach
Im Jahr meines Abiturs besuchte ich zum zweiten mal den Remscheider Kurs. Das Georg Gräwe Quintett machte mittlerweile als Freejazz-Band der zweiten Generation die Jazzclubs unsicher. Der Charme des Neuen fehlte bei diesem zweiten Kurs, obwohl ich auch dieses mal von vielen Erfahrungen profitieren konnte. Zudem fehlten mir meine Freunde, die mir ein Sicherheitsgefühl gegeben hätten.
Berufsmusiker
Während der fünf Jahre fremdgeleiteten Studiums verdiente ich mein Geld ausnahmslos mit Musik. Ich spielte regelmäßig mit dem Georg Gräwe Quintett und später mit dem Grubenklangorchester von Georg Gräwe. Es gab mittlerweile 2 Schallplatten des Quintetts und wir eroberten das nahegelegene europäische Ausland. Ich unterrichtete seit meinem Abitur an der heimischen Musikschule und hatte ein gedeihliches Einkommen.